"Muss ein Christ immer die Wahrheit sagen?" - Semestereröffnung und Studientag mit Prof. Dr. Christiane Tietz

Traditionell wurde das neue Semester  mit einem gemeinsamen Abendessen in der Mensa und einem darauffolgenden Studientag eröffnet. Dieser wurde mit einem Gottesdienst eingeleitet, in dem Prof. Dr. Uwe Swarat eine Predigt über die Emmausjünger hielt. Grundlage war Lukas 24, 23: „Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?“ Im anschließenden Vortrag referierte Prof. Dr. Christiane Tietz von der Universität Zürich zum Thema „Muss man immer die Wahrheit sagen? Dietrich Bonhoeffers Auseinandersetzung mit dem Verbot zu lügen in der Situation der Verschwörung“.

In der Predigt von Uwe Swarat ging es um neue Perspektiven auf die Heilige Schrift. Die Jünger begingen ihren Weg nach Emmaus in der tiefen Verzweiflung, dass das Werk Jesu gescheitert war. Sie erkannten in der Heiligen Schrift die Erfüllung des prophetischen Wortes durch Jesus Christus, konnten seinen Tod jedoch nicht mehr in ihr Glaubensleben einordnen. Es war erst der auferstandene Christus, der ihnen neue Zugänge zur Schrift eröffnete und seinen Tod nicht als Ende, sondern als Teil des göttlichen Heilsplanes auslegte. Dieser neue Zugang riß die Jünger aus ihrer Resignation und weckte neue Begeisterung. Den Anspruch Christus in der Schrift zu erkennen haben wir auch heute noch. Dazu müssen alte Verständnisse auch mal aufgebrochen werden und neugierige Fragen gestellt werden, damit neue Erkenntnisse das Herz entflammen. In dieser Haltung ein Theologiestudium zu beginnen bringt Früchte und unerwartete Einsichten.

Im anschließenden Vortrag von Prof. Dr. Christiane Tietz ging es um das spannende Thema „Muss ein Christ immer die Wahrheit sagen?". Diese Frage beschäftigt die Gläubigen schon seit je her und findet sich auch in zahlreichen spannenden biblischen Geschichten wieder (z.B.: Kain belügt Gott über Abels Verbleib, Abraham und Isaak geben ihre Frauen als Schwestern aus, Jakob erschleicht den Segen der seinem Bruder galt). Selbst der Dekalog gibt keine eindeutige Antwort, so bezieht sich das achte Gebot genau genommen auf Falschaussagen vor Gericht und verbietet Lügen nicht generell. Religions- und Philosophiegeschichtlich haben sich drei Antwortstränge aus dieser Frage ergeben: (1) Die radikale Wahrhaftigkeit, die unter allen Umständen die Wahrheit einfordert, da Lügen generell der menschlichen Gemeinschaft schadet. (2) Die Unterscheidung zwischen Falschaussage und Lüge (Lüge ist es nur, wenn der Fragende ein Recht auf die Wahrheit hat). (3) Die Pflicht zur Wahrheit steht im Konflikt zu anderen Pflichten, daher gilt es sich bewusst für den Vorrang einer Pflicht zu entscheiden (Die Pflicht zur Wahrheit wird vernachlässigt um z.B. der Pflicht zum Erhalt des Lebens nachzukommen).

In diesen bereits vorhandenen Lösungsansätzen findet Dietrich Bonhoeffer einen ganz eigenen Weg. Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler macht er sich während seiner Gefangenschaft Gedanken, wie er mit den anstehenden Verhören als Christ umzugehen habe. Grundlegend war für ihn die Einsicht, dass Wahrheit eben nicht, wie bei den vorangehenden Ansätzen, die Bezeugung des Faktischen (was wirklich ist) ist. Stattdessen muss Wahrheit einhergehen mit der Wirklichkeit des lebendigen Christusgeschehens und kann daher kontextuell unterschiedlich aussehen. Gott gab den Menschen Mandate um seinem Willen gemäß in Kirche, Staat und Familie zu handeln und ein friedliches Miteinander zu ermöglichen. Wer aufgrund einer unpassenden Frage genötigt wird diesem göttlichen Willen nach Harmonie für Mensch und Welt zu schaden, für den ist es wahrer das faktisch Falsche zu sagen. Wahrheit ist demnach nichts rein objektives, sondern auch am Maßstab der Wirklichkeit des lebendigen Gottes zu messen. Für Bonhoeffer hatte das konkrete Konsequenzen: Im Verhör durch einen Vertreter eines Unrechtsstaates war er dazu verpflichtet in Wahrhaftigkeit das faktisch Falsche zu sagen, um der menschlichen Gemeinschaft und der göttlichen Wirklichkeit nicht zu widersprechen.

Glauben, Denken, Handeln