Gastvortrag des israelischen Religions- und Kunsthistorikers Leor Jacobi am 4. Juli 2024
„Da glaubte er dem Herrn, und er rechnete es ihm als Gerechtigkeit“ (Gen 15,6). Wer rechnet wem was zur Gerechtigkeit? Paulus (Röm 4,3; Gal 3,6) zitiert den Verweis als Schriftbeweis dafür, dass der Mensch durch den Glauben Gerechtigkeit vor Gott erlangt. Der überlieferte hebräische Text lässt aber auch die Deutung zu, dass Abraham Gott glaubte und Gott für „gerecht“ hielt, im Sinne von „zuverlässig“, also dass Gott das einhält, was er verspricht. Mit der Interpretation dieses Bibelverses sind grundsätzliche theologische Fragen verbunden, vor allem aus christlicher, aber auch aus jüdischer Perspektive.
Exemplarisch wird dies deutlich an Auslegungen des italienisch-jüdischen Bibelgelehrten Samuel David Luzzatto (1800-1865), der im Laufe seines Lebens zwei entgegengesetzte Deutungen vertrat. In seinen gedruckten Bibelkommentaren vertrat Luzzatto die Auffassung, dass Abraham Gott für gerecht hielt. In einem bisher nicht beachteten Brief räumte Luzzatto jedoch ein, dass er nach vielen Jahrzehnten zu der Auffassung zurückgekehrt sei, dass Gott den Glauben Abrahams als Gerechtigkeit anrechnete. Dies ist auch in der jüdischen Tradition die Auffassung der meisten Ausleger. Bei seinem Ringen um das Verständnis von Gen 15,6 setzte sich Luzzatto mit jüdischen und christlichen Kommentaren, mit der kritischen Bibelwissenschaft seiner Zeit und mit religionsphilosophischen Grundfragen auseinander. Einen anschaulichen Überblick über das Thema vermittelte der gut besuchte Gastvortrag von Dr. Leor Jacobi, der an der israelischen Bar-Ilan-Universität auf dem Gebiet der rabbinischen Literatur und der jüdischen Kulturgeschichte forscht und lehrt.
Vor dem Vortrag besichtigte Leor Jacobi gemeinsam mit Rabbiner Eli Reich (Institut für Jüdische Theologie, Universität Potsdam) die Bibliothek der Theologischen Hochschule Elstal. In einer hebräischen Handschrift des Buches Ester, die als Geschenk von Professor Michael Rohde nach Elstal gelangte, machten die beiden Wissenschaftler eine eigenartige Entdeckung. Im Buch Ester wird Gott bekanntlich kein einziges Mal erwähnt. In der Elstaler Pergamentrolle verzierte der Schreiber jedoch immer dann, wenn die Anfangs- oder die Endbuchstaben von vier direkt aufeinander folgenden Worten göttliche Namen ergeben, die betreffenden Buchstaben mit Serifen in der Form von kleinen Krummstäben oder Spazierstöcken. Auf diese Weise ist Gott dann gewissermaßen auch im Esterbuch zu entdecken. „Diese Markierungen sind sehr ungewöhnlich. In modernen Ester-Rollen findet man das nicht“, erläuterte Jacobi die Beobachtung. Möglicherweise lässt sich anhand der Markierungen sogar klären, wann und wo die Elstaler Ester-Rolle entstand.